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Nadja Kirchhof

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Psychologie digitaler Zivilcourage: Warum wir handeln oder tatenlos bleiben

Was beeinflusst, ob wir bei Hass im Netz einschreiten oder untätig bleiben? Sozialpsychologin Dr. Julia Sasse und Doktorand Niklas Cypris von der Technischen Universität München nehmen uns mit in die Psychologie hinter digitaler Zivilcourage. 

Symbolfoto Hass im Netz kann jeden treffen.

Hass im Netz kann jeden treffen. Dahinter stecken vielfältige Persönlichkeitsmerkmale und Emotionen. Sie bestimmen auch, ob wir uns wehren oder nicht. © DTAG

Wie wir uns verhalten, wird von vielen Elementen beeinflusst. Individuelle Werte können ebenso eine Rolle spielen wie eigene Fähigkeiten oder übergreifende Normen. Ganz ähnlich ist das auch bei digitaler Zivilcourage. „Ob Zivilcourage gezeigt wird oder nicht, hängt sowohl von situativen Faktoren, z.B. wie riskant das Eingreifen ist, als auch von Persönlichkeitsmerkmalen ab. Wir nehmen an, dass ein relevantes Persönlichkeitsmerkmal die Sensibilität für Ungerechtigkeit ist”, sagt Julia Sasse, Sozialpsychologin an der Technischen Universität München.

Alles eine Frage der Perspektive

Julia Sasse

Julia Sasse

Die Expertin sagt, dass Ungerechtigkeit aus vier Perspektiven wahrgenommen werden könne: Opfer-, Täter*in-, Beobachter*in- oder Nutznießer*inperspektive. Bei Zivilcourage sei die Beobachter*inperspektive entscheidend: „Je sensibler eine Person auf beobachtete Ungerechtigkeit reagiert, desto stärker reagiert sie mit Ärger und desto eher geht sie gegen den Normverstoß vor.” Obwohl sich ihre Untersuchungen bisher auf analoge Zivilcourage beziehen, glaubt Julia Sasse, dass die gewonnenen Erkenntnisse auch auf digitale Kontexte anwendbar sind.

Das gelte auch für die psychologischen Prozesse, die Zivilcourage zugrunde liege. Deren Ablauf lasse sich in mehrere Stufen unterteilen: Zunächst werde der Normverstoß erkannt und als solcher interpretiert. Dann müsse sich die beobachtende Person verantwortlich fühlen, einzugreifen, und annehmen, dafür die notwendigen Fähigkeiten zu besitzen. Schließlich werden Risiken und Nutzen gegeneinander abgewogen. 

Ärger vs. Angst

Ein starker Handlungstreiber bei Zivilcourage seien Emotionen. „Aus unserer Forschung wissen wir, dass Ärger zu mehr Eingreifen gegen Normverstöße führt”, so die Sozialpsychologin. Ganz anders sehe es mit Angst aus. Sorgen über negative Konsequenzen, zum Beispiel Auseinandersetzungen oder Shitstorms gegen die eigene Person, können vermutlich dazu führen, dass wir uns der Situation eher entziehen. Niklas Cypris, Doktorand und Forschungskollege von Julia Sasse, ergänzt einen weiteren Punkt: Gruppendynamik. „Wenn andere Menschen in der Situation eingreifen oder helfen, ist man geneigter, es auch selber zu tun.” 

Don’t feed the troll – feed the audience 

Niklas Cypris

Niklas Cypris

Ob aus hoher Sensibilität für Ungerechtigkeit, einem starken Ärger oder der Gemeinschaft heraus: „Studien zeigen, dass es wichtig und effektiv ist, sich Verfasser*innen von Hassrede entgegenzustellen. Der Zweck hierbei ist nicht nur, den eigentlichen Troll zu erreichen. Vielmehr wirkt Gegenrede besonders auf das Publikum der Hassrede. Wenn diese 'schweigende Mehrheit' unwidersprochene Hassrede sieht, entsteht der Eindruck, dass solche Aussagen vertretbare Meinungen darstellen. Das wiederum kann gefährliche Auswirkungen online und auch offline haben”, so Niklas Cypris. 

Der Psychologe beruft sich auf eine Studie, in der auf Twitter untersucht wurde, wie sich Gegenrede gegen organisierten Hass auswirkt. Hintergrund war eine rechtsextreme Gruppe, die sich vor der Bundestagswahl 2019 formiert hatte, um mit Hassbotschaften den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen. Jan Böhmermann gründete daraufhin die Gruppe 'Reconquista Internet', die Gegenrede betrieb. „Vor der Gründung von 'Reconquista Internet' ließ sich beobachten, dass sowohl Hassrede als auch die generelle Aggressivität der Unterhaltungen auf Twitter zunahmen. Das Wirken von 'Reconquista Internet' hingegen hing signifikant mit einer Zunahme von Gegenrede sowie einer Abnahme von Hassrede und der generellen Aggressivität des Diskurses zusammen.”

Gegenrede scheine demnach ein wirksames Mittel gegen Hassrede zu sein. „Vielleicht lässt sich diese Erkenntnis unter folgendem Satz zusammenfassen: Don’t feed the troll – feed the audience!” Und auch Julia Sasse betont, dass alle User*innen einen Beitrag zum zivilen Umgang im Netz leisten können. „Hier können Initiativen eine wichtige Rolle spielen, durch die User*innen mehr über die verschiedenen Formen von Normverstößen, ihre psychischen und gesellschaftlichen Konsequenzen sowie konkrete Eingriffsmöglichkeiten lernen. Dadurch kann es User*innen leichter fallen, Normverstöße als solche zu erkennen und zu entscheiden, wie sie gegen sie vorgehen können.”

Gemeinsam gegen Hass im Netz

Gemeinsam mit unseren Partnern setzen wir genau an diesem Punkt an. Wir wollen aufklären und ermutigen, sensibel zu sein, sich zu ärgern, zusammenzuschließen und aktiv zu werden. Und wir wollen dazulernen und verstehen. Genauso wie Julia Sasse und Niklas Cypris in ihrer Forschung. 

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