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Heiko Lehmann

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Zwillingsforschung in der digitalen Netzwelt

Jim Lewis und Jim Springer wurden als Zwillinge bei Geburt getrennt. 39 Jahre später trafen sie sich zum ersten Mal wieder und stellten unglaubliche, geradezu gespenstische Gemeinsamkeiten fest: Beide hatten in erster Ehe eine Frau namens Linda geheiratet, sich scheiden lassen und eine neue Partnerin namens Betty gefunden, beide hatten als Kinder einen Hund namens Toy, beide ließen sich als Polizisten ausbilden, beide mochten in der Schule am liebsten Mathe und am wenigsten Rechtschreibung, beide kauen auf ihren Fingernägeln. 

Digitale Zwillinge

Zwillingsforschung in der digitalen Netzwelt. © Deutsche Telekom/ iStock/ 35007/ Jackie Niam; Montage: Evelyn Ebert Meneses

„Jim & Jim“ sind eines der faszinierendsten Fallbeispiele in der biologischen Zwillingsforschung. Und sie sind mir immens behilflich, wenn ich beim Smalltalk auf einer Dinnerparty oder einer Familienfeier erzählen soll, an was ich denn so forsche, was denn so Gegenstand meiner Arbeit in den T-Labs ist. An ihrem Beispiel kann ich die Idee des „Digitalen Zwillings“ wunderbar erklären: Ein realitätsnahes digitales Abbild im Computer von komplexen Phänomenen der richtigen Welt zum Zwecke der Untersuchung schwieriger Fragen. Ein virtueller Jim für den realen Jim eben. 

Mit Hilfe des digitalen Zwillings können wir dann viel schneller, günstiger und risikoärmer Studien treiben als in der richtigen Welt – das ist das Wertversprechen der Idee. Die ersten digitalen Zwillinge sind in der Manufacturing-Industrie entstanden. Nämlich als virtuelle Nachbildungen von 3D-Objekten wie Autos oder Maschinenteilen, anhand derer heute zum Beispiel Schweißnähte, Stromlinienförmigkeit oder Materialverschleiß untersucht werden. 

Wenn wir nun einen Digitalen Zwilling des Telekommunikationsnetzes bauen wollen – und genau das ist die Ambition unserer Forschungsprojekte in den T-Labs  – stolpern wir sofort über zwei Probleme: Das erste besteht im verteilten Charakter unserer Netze und ihrem prozesshaften Wesen. Ein Kraftfahrzeug oder eine Flugzeugturbine kann ich von allen Seiten fotografieren und dann, so genau, wie es meine Rechentechnik erlaubt, virtuell nachbauen. Ein Netz kann ich zwar auch „fotografieren“, also seinen Zustand zu einem Zeitpunkt erfassen, aber schon im nächsten Moment, wenn z.B. beim ISTAF in Berlin ein Weltrekord aufgestellt wird und tausende Leute das Video davon aus dem Olympiastadion in alle Welt schicken, hat es einen ganz anderen Zustand. 

Was immer man als digitalen Netzzwilling bezeichnen will, muss in der Lage sein, die Dynamik im Netz mit zu erfassen. Dafür sind Modelle notwendig, die die Annahmen über die treibenden Kräfte und die geltenden Bewegungsgesetze nachbilden. Sie sind die Achillesferse des Digitalen Zwillings, denn Annahmen und Modelle sind eben nur so gut, wie der jeweilige Stand der Forschung. Man wird immer wieder – um zum Beispiel vom Anfang zurückzukommen - den realen Jim zu einem neuen Sachverhalt befragen müssen, um diesen im digitalen Jim nachzubilden. 

Eine zweite Herausforderung liegt in der Schichtung unseres Netzes: Zwischen der elektromagnetischen Welle, die die Antenne unseres Smartphones verlässt und dem Ergebnis einer Suchanfrage, das wenig später auf dessen Bildschirm erscheint, liegt eine physikalische Welt von unglaublicher Kompliziertheit und Spannbreite. Kein Computerprogramm wird in der Lage sein, diese Prozesse in ihrer Gesamtheit nachzubilden. Schon die Simulation von zehn Sekunden Netzgeschehen in einer Handvoll Basisstationen auf dem Detaillierungsgrad von IP-Paketen benötigt derzeit mehrere Stunden Rechenzeit… 

Weil das nun alles so schwierig ist, sind wir gemeinsam mit unseren akademischen Partnern fast philosophisch geworden (auch wenn „philosophieren“ nicht explizit in meinem Arbeitsvertrag steht). Wir haben Fragen wie diese diskutiert: Wie denn ein Netzzwilling zu greifen wäre? Wie man ihn eingrenzen kann, zuschneiden kann, handhabbar machen kann? Was sein Mehrwert für die Planung und den optimalen Betrieb unserer Netze ist? 
Die erste wichtige Erkenntnis ist, dass der Digitale Netzwerkzwilling ein modulares System von Modellbestandteilen sein muss: Die Modellierung der Wellenausbreitung ist entkoppelt von jener der Kanalwahl oder der IP-Pakete usw. Eine genaue Analyse der jeweils gestellten Aufgabe führt dann zur Auswahl der tatsächlich notwendigen Modellkomponenten. Für die optimierte Positionierung von Basisstationen in einem Campus-Netzwerk muss man anders modellieren als für die Betriebskostensimulation des deutschlandweiten Netzgebietes. Platt gesagt: Für den „Use Case“ (wie es im IT-Denglisch heißt), dass der reale Jim neue Klamotten online kaufen will, muss der digitale Jim die korrekte Körperform nachbilden und kann auf die Modellierung seiner Abiturnoten getrost verzichten. Wenn es um sein Skill-Profil geht, ist es umgekehrt. Schulnoten und möglicher Bauchansatz sind in verschiedenen, gekapselten Modellmodulen zu erfassen. 

Das zweite Ergebnis unseres Nachdenkens über den Digitalen Netzwerkzwillings ist seine Grundstruktur. Sie besteht immer aus drei Zutaten: 

-    einer hochaufgelösten Netzzustandserfassung, 
-    der modellgestützten Fortschreibung dieses Zustands in die Zukunft 
-    und einer genau definierten Updatestrategie für die verwendeten Parameter. 

Das sind die Grundbausteine für unsere Innovationsprojekte, die wir gemeinsam mit unseren Forschungspartnern verfolgen. Ein erstes Ergebnis haben wir bereits erzielt: Den Energiebedarf von Campus-Netzen können wir schon so erfassen, dass die beiden Jims wohl ganz zufrieden wären. 

Jim & Jim lehren uns aber auch ein bisschen Demut: So verblüffend ihre Gemeinsamkeiten sind, es bleiben zwei verschiedene Menschen mit ihrem je eigenen unverwechselbaren Seelenleben – das Studium von Zwillingen hat eindeutig seine Grenzen, in der Biologie genauso wie in der digitalen Welt. Wenn wir das aber anerkennen und den Rest so gut machen, wie wir und unsere Forschungspartner es vermögen, werden wir ein mächtiges Werkzeug haben für das virtuelle Analysieren und Optimieren unserer Telekommunikationsnetze; es ist bereits im Entstehen. 

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