Fachkräftemangel: weiter klagen oder weiterbilden?
Es geht um angepasste Qualifizierung, nicht nur um Demografie. Fachhochschulen können dazu einen wichtigen Beitrag leisten – sie werden gehörig unterschätzt, findet Stefanie Kreusel, Konzernbeauftragte für Digitale Bildung der Deutschen Telekom.
Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht vom Fachkräftemangel lese – was kein Wunder ist; schließlich können in Deutschland rund 45 % der Stellen für Fachkräfte nicht adäquat besetzt werden. Die Folgen sind beispielsweise Belegschaftsüberlastung und unbesetzte Stellen in vielen Unternehmen und Branchen. Als Grund dafür wird gern der demografische Wandel angeführt, der zweifellos ein Problem darstellt, aber das ist meiner Meinung nach zu kurz gegriffen. Denn es gibt auch eine Qualifizierungslücke auf dem Arbeitsmarkt.
Zu viel Qualifikation – oder zu wenig
Auf der einen Seite haben wir eine Vielzahl von jungen Leuten, die studieren dürfen und wollen: Seit 2021 ist die Zahl der Studierenden jährlich mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der Auszubildenden. Langfristig ist die Entwicklung noch beeindruckender. Laut Statistischem Bundesamt kamen 1950 noch 75,5 Auszubildende auf zehn Studierende. 2021 waren es nur noch 4,3 Auszubildende auf zehn Studierende.
Auf der anderen Seite haben wir eine ebenfalls hohe Zahl von erwerbsfähigen Menschen, die weder für ein Studium noch für einen Beruf qualifiziert sind, weil sie keine abgeschlossene Ausbildung haben. In 2022 traf das auf 2,9 Mio. der 20- bis 34-Jährigen zu. Damit fehlen diejenigen, die die Wirtschaft am dringendsten braucht, nämlich junge Menschen mit einer Ausbildung, die direkt in die Berufswelt einsteigen können. Wie können wir diese Lücke schließen? Zum Beispiel, indem wir akademische Bildung und Berufseinstieg noch besser miteinander verquicken. So können wir einerseits den Schulabsolventinnen und -absolventen den Wunsch nach einem Hochschulabschluss erfüllen, und andererseits bekommt die Wirtschaft frühzeitig neue Fachkräfte.
Fachhochschulen – ein unterschätzter Teil der Lösung
Besinnen wir uns doch auf eine unserer traditionellen Stärken: Deutschland gilt als das Ursprungsland der dualen Studiengänge; wir sind Meister darin, theoretisches Wissen und Praxisbezug in der Berufsqualifizierung zusammenzubringen. Sehr gut gelingt uns das in Fachhochschulen – diese arbeiten eng mit Unternehmen zusammen und schlagen so eine „Brücke“ zwischen der akademischen Laufbahn und dem Einstieg in die Wirtschaft. Professor Dr. Kai-Oliver Schocke, Präsident der Frankfurt University of Applied Sciences (UAS), bringt es auf den Punkt: „Wir verstehen uns nicht nur als Bildungsinstitut, sondern auch als strategischer Partner der Wirtschaft. Wir helfen Unternehmen einerseits, Lösungen für aktuelle Problemstellungen – wie Klimaschutz, Mobilitätswende usw. – zu entwickeln, und andererseits Fachkräfte auszubilden, die diese Lösungen dann umsetzen.“
Orientierungshilfe und Unterstützung bei Studienabbruch
Fachhochschulen geben jungen Menschen außerdem Hilfestellung bei der beruflichen Orientierung. Ein Beispiel dafür ist das EU-geförderte Projekt YourPUSH, das jetzt von der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main in Kooperation mit der Goethe Universität und der Frankfurt UAS neu belebt wird. Das Projekt ist darauf ausgerichtet, jungen Menschen die Entscheidung zwischen dualer Ausbildung und Studium zu erleichtern. Dazu zählt auch, sie gegebenenfalls bei einem Wechsel vom Studium in eine Ausbildung zu unterstützen, wenn der Hörsaal doch nicht das Richtige für sie ist. Professor Dr. Schocke forciert dieses Projekt, denn die Frankfurt UAS hat sich auf die Fahnen geschrieben, auch jene Studierenden zu unterstützen, die an ihrem Studium zweifeln oder dieses abbrechen wollen. Ihnen eröffnet YourPUSH neue Perspektiven, indem es sie beim Wechsel in eine Ausbildung unterstützt.
Fachspezifische Weiterbildung
Und Fachhochschulen tun noch mehr: Viele haben ihr Weiterbildungsangebot für Menschen, die bereits fest im Berufsleben stehen, ausgebaut – sie bieten beispielsweise Seminare für Firmenbelegschaften, Inhouse-Trainings und weiterbildende Masterstudiengänge an. Denn auch fachspezifische Weiterbildung ist eine wirkungsvolle Maßnahme zur Bekämpfung des Facharbeitermangels: Für zahlreiche offene Stellen speziell im Bereich IT und Ingenieurswissenschaften sind sowohl Berufserfahrung als auch ein Studium gefragt – da sind weiterbildende Masterstudiengänge sehr nützlich. Sie knüpfen an die Berufserfahrung der Studierenden an und erweitern deren Kenntnisse in bestimmten beruflichen Praxisfeldern.
Die Möglichkeiten, junge Menschen schneller in den Beruf zu holen, sind also da, genauso wie die Möglichkeiten, fertig ausgebildete Fachkräfte noch höher zu qualifizieren. Nutzen wir sie! Denn die Überalterung der Gesellschaft können wir in absehbarer Zeit nicht aufhalten – deshalb müssen wir alles tun, was in puncto Fachkräftegewinnung sonst noch hilfreich ist. Den Fachhochschulen mehr Beachtung zu schenken, ist ein Anfang.